

Momentgeschichten
Erlebt. Erzählt. In Worte gefasst
Der Rotweinbrunnen

Der Traum
Es war eine dieser stillen Stunden, in denen die Welt fast zu vergessen schien, dass sie sich drehte. Clara saß auf der Terrasse ihrer kleinen Ferienwohnung in den Abruzzen, den Blick auf die sanften, bis zum Horizont ausrollenden Hügel gerichtet. Der Wind trug den Duft von Reben und frischer Erde zu ihr, und der vertraute Geschmack des Rotweins, den sie in ihrem Glas schwenkte, umspielte ihre Sinne.​ Doch es war nicht irgendein Wein.
Der Rotweinbrunnen
Der Traum
Es war eine dieser stillen Stunden, in denen die Welt fast zu vergessen schien, dass sie sich drehte. Clara saß auf der Terrasse ihrer kleinen Ferienwohnung in den Abruzzen, den Blick auf die sanften, bis zum Horizont ausrollenden Hügel gerichtet. Der Wind trug den Duft von Reben und frischer Erde zu ihr, und der vertraute Geschmack des Rotweins, den sie in ihrem Glas schwenkte, umspielte ihre Sinne.​ Doch es war nicht irgendein Wein - es war jener besondere Tropfen aus dem geheimen Brunnen, von dem sie und Jules so oft gesprochen hatten. Ein Brunnen, versteckt in einem abgelegenen Dorf, dessen Wasser – oder besser gesagt, dessen Wein – wie ein Geschenk der Götter floss. "Fonte del Vino Eterno" nannten ihn die Einheimischen, und einer alten Legende nach würde er nie versiegen, solange die Menschen ihn in Freude tranken. Kein anderer Ort konnte mit dieser Magie, mit dieser Geschichte mithalten.​Die Reise zu diesem Brunnen war einst ihr gemeinsamer Traum gewesen.Sie hatten Pläne geschmiedet, sich ausgemalt, wie sie gemeinsam durch die verwinkelten Gassen des Dorfes schlendern, den geheimen Pfad durch die Weinberge suchen und schließlich den ersten Schluck von diesem sagenumwobenen Wein kosten würden. Doch das Leben hatte andere Wege für sie vorgesehen. Ihre Pfade trennten sich, und der gemeinsame Traum blieb unerfüllt.​​
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Das Vergangene
Auf einer Reise spürte Clara, dass auch Jules diesen Ort gefunden hatte. Er hatte eine kleine Notiz an sie hinterlassen. Es machte sie glücklich, dass er anscheinend den Traum nicht vergessen hatte und auch nach diesem Ort gesucht hatte.Eines Tages hatte sie eine kleine, vergilbte Notiz zwischen den abgenutzten Steinen des Brunnens entdeckt. Die Handschrift war unverkennbar: Jules. "Hier, an diesem Ort, wo die Zeit stillsteht – für uns." Eine Botschaft, die nur sie verstehen konnte, ein stiller Gruß über die Jahre hinweg. Seitdem hinterließen sie sich regelmäßig kleine Notizen, Sätze, Gedanken – eine leise Unterhaltung über die Zeit hinweg, die ihre tiefe Freundschaft bewahrte. Ein leiser Dialog zwischen den Zeilen der Vergangenheit.​​
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Die Erkenntnis
Clara dachte an all die langen Gespräche, die sie einst geführt hatten, an die Geschichten, die nur Menschen einander erzählen, die sich wirklich vertraut sind. Ihre Wege hatten sich getrennt, doch Italien, die Abruzzen, der Rotwein – sie hatten nie aufgehört, das Verbindende zwischen ihnen zu sein. Dieser Brunnen war zu einem Symbol ihrer unausgesprochenen Verbundenheit geworden.​ Der Wein in ihrem Glas reflektierte das letzte Licht der untergehenden Sonne, und für einen Moment war alles wieder ganz nah. Sie schloss die Augen, spürte die warme Abendluft auf ihrer Haut und lächelte leise. "Vielleicht", flüsterte sie, "vielleicht führt uns das Leben eines Tages wieder zusammen. Hier. An diesem Brunnen."​Sie glaubte fest daran, dass sie in nicht ferner Zukunft gemeinsam ein Glas am Brunnen trinken würden, denn es war nie ein Abschied gewesen, und sie lächelte bei diesem Gedanken
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​@2025 Simone U. Nessel | gewidmet dem "Traumteiler"
Der Wächter
Hoch über den glitzernden Lichtern Seouls stand er – reglos, schweigend, unermüdlich. Der Namsan Tower, von den Menschen liebevoll N-Seoul Tower genannt, thronte wie ein alter Wächter über der Stadt, als sei er beauftragt, jeden Traum, jedes Flüstern, jede Träne zu beobachten. Tagsüber war er ein Ziel. Touristen kamen, lachten, machten Selfies. Paare hängten kleine Schlösser an die Geländer, als wollten sie der Zeit ein Schnippchen schlagen. Die Stadt lag ihnen zu Füßen – ein Mosaik aus Glas, Lärm und Leben. Doch wenn die Nacht fiel und die Besucher verschwanden, wurde der Tower zum stillen Wächter.
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In solchen Nächten flackerte etwas in seinem Inneren. Nicht die Lichter der Aussichtsplattform – nein, etwas anderes. Etwas Altes. Die Seele eines Baumes, so sagten einige, sei in seinen Fundamenten gefangen. Ein Baum, der einst an diesem Ort stand, lange bevor Straßen kamen. Er hatte Geschichten gehört vom Wind, von Liebenden, von Tränen, die heimlich vergossen wurden.
An besonders klaren Nächten, wenn der Nebel wie Erinnerungen über die Hänge des Namsan zog, konnte man sie hören – Stimmen. Leise, fast wie Wind. Worte auf Koreanisch, Japanisch, Englisch. Wünsche, Sehnsüchte. Der Tower hörte zu, ohne zu urteilen.
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Eines Abends kam ein alter Mann mit einem kleinen Holzkoffer. Er setzte sich auf eine der Bänke am Fuß des Turms und starrte lange in die Ferne. Dann öffnete er den Koffer, nahm ein altes Foto heraus – ein junges Paar vor dem Tower, in Schwarz-Weiß.
„Du hast uns damals gesehen“, sagte er leise.
Der Wind rauschte durch die Bäume. Der Turm schwieg.
„Sie ist gegangen. Vor zwei Wintern. Ich wollte nur… dich daran erinnern.“
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Der Turm antwortet nicht. Aber in diesem Moment blinken seine Lichter ein wenig sanfter, als ob er zuhöre.
„Sie ist gegangen. Vor zwei Wintern. Ich wollte nur… dass du dich erinnerst.“
Der Mann steht auf, schiebt das Foto in eine kleine Ritze am Geländer und geht. Langsam, würdevoll. Der Tower bleibt. Er nimmt das Bild auf, ohne es zu bewegen. Er speichert es – so wie so viele andere Dinge, die ihm niemand direkt anvertraut, und doch jeder bei ihm lässt.
Er ist kein Mensch. Aber er versteht. Er urteilt nicht, verurteilt nicht. Er bewahrt. Das ist seine Aufgabe.
Der stille Wächter.
Während Seoul träumt, wacht er.
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@2025 Simone U. Nessel
Zwei Wochen Mut
Ayla war sechzehn, als sie die Sommerferien nicht erwarten konnte – nicht wegen der Sonne oder dem Essen, sondern wegen der kurzen Pause vom Stress in der Schule in Köln. Sie war hier geboren, sprach fließend Deutsch, kannte die Regeln, Träume und Freiheiten dieses Landes. Ihre Eltern kamen aus Pakistan. Zuhause war voller Widersprüche: drinnen wurde Urdu gesprochen, draußen Deutsch. Drinnen lebten andere Erwartungen – draußen ein anderes Leben.
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Doch als ihre Eltern sagten, sie würden für ein paar Wochen „Urlaub in Pakistan“ machen, ahnte Ayla schon, dass mehr dahintersteckte. Es war die Art, wie ihre Mutter sie plötzlich beobachtete, wie ihr Vater stumm blieb, wenn das Thema auf ihre Zukunft kam. Am dritten Tag im kleinen Dorf ihrer Großeltern kam es heraus: Eine Hochzeit sei geplant. Mit dem Sohn eines entfernten Onkels. Ein „guter Junge“. Ayla konnte sich nicht bewegen, als ihre Tante die Kleider zeigte, ihre Mutter über den Goldschmuck sprach. Ihr Herz raste, aber ihre Stimme blieb gefangen.
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In der Nacht weinte sie sich in den Schlaf – dann, im Morgengrauen, packte sie heimlich ein paar Kleidungsstücke, ihr Handy, das offline war, und etwas Bargeld, das sie versteckt bei der Reise angespart hatte. Sie flüchtete. Irgendwohin. Hauptsache weg.
Zwei Wochen irrte sie durch Städte, durch Dörfer, versteckte sich in Bussen, redete kaum – denn ihr Urdu war holprig, voller deutscher Pausen. Sie verstand, wenn man mit ihr sprach, aber antworten war schwer. Die Angst verfolgte sie – dass sie entdeckt würde, dass jemand sie zurückbringen würde. Sie war eine Minderjährige ohne Schutz, allein in einem Land, das sie nur aus Erzählungen kannte.
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Dann, an einem Busbahnhof in Lahore, traf sie auf ein älteres Touristenpaar aus Hamburg – Heike und Thomas. Sie bemerkten ihr verweintes Gesicht, ihre abgetragene Kleidung, das abgeschaltete Handy in ihrer Hand, das sie nervös umklammerte. Heike sprach sie leise an: „Geht es dir gut?“ Ayla antwortete zögerlich auf Deutsch – und dann, als sie Vertrauen spürte, brach es aus ihr heraus. Sie erzählte alles. Die beiden hörten zu, ernst, ruhig.
Thomas kannte eine Organisation in Deutschland, die Mädchen wie Ayla half – sie kontaktierten sie sofort. Die Organisation reagierte innerhalb von Minuten. Ja, sie hatten einen Standort in Pakistan. Ja, sie würden sie abholen. Jetzt sofort.
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In den nächsten Stunden wurde Ayla in Sicherheit gebracht – in ein Schutzhaus der Organisation. Sie war nicht allein. Andere Mädchen waren dort, mit ähnlichen Geschichten, ähnlichen Augen, die zu viel gesehen hatten. Sie durfte durchatmen, zum ersten Mal seit Tagen. Und dann kam die Nachricht: Sie würde nach Hause zurückkehren. Nach Deutschland. Zurück in ein Leben, das ihr gehörte.
Am Flughafen stand eine Mitarbeiterin der Organisation neben ihr. „Du bist sehr mutig“, sagte sie leise. Ayla hielt die Hand der Frau fest, während sie auf das Gate zugingen. Durch das Fenster sah sie das Flugzeug, das sie zurück in die Freiheit bringen würde. Ihr Herz klopfte laut – diesmal nicht aus Angst, sondern aus Hoffnung.
Dann gingen sie gemeinsam durchs Gate.
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@2025 Simone U. Nessel


